Inklusion braucht Investitionen!
Die Äußerungen von Roberto Vannacci, der die Einführung von Sonderklassen für Kinder und Jugendliche mit attestierten Behinderungen fordert, haben in der Öffentlichkeit für Empörung und erhitzte Debatten gesorgt. Aus wissenschaftlicher Sicht wirkt der Gedanke, schwächere Lerner:innen und Kinder mit Beeinträchtigungen von allgemeinen Klassen auszusondern, befremdlich und „aus der Zeit gefallen“, und zwar aus mehreren Gründen: Auf internationaler Ebene widerspricht dieser Gedanke geltenden Menschenrechten. In der UN-Behindertenrechtskonvention von 2006 wurde für jedes Kind das Recht auf einen diskriminierungsfreien Zugang zu Bildung in allgmeinen Schulen abgesichert. Italien hat diese Erklärung 2009 ratifiziert und sich damit verpflichtet, sie konsequent in die Praxis umzusetzen. Weiter ist dort eindeutig festgelegt, dass individuelle Hilfen im allgemeinen System zur Verfügung zu stellen sind. Kinder aufgrund von Diagnosen von ihren Freunden und Freundinnen getrennt zu unterrichten und ihnen hier ein reduziertes Bildungsangebot zu machen, wäre eine eindeutige Diskriminierung im Sinne der Ungleichbehandlung und damit ein klarer Verstoß gegen geltende Menschenrechte. Das gewachsene inklusive Bildungssystem Italiens gilt in den internationalen Fachdebatten zur Umsetzung dieses menschenrechtlichen Rahmens als Avantgarde. Im Kompetenzzentrum für Inklusion im Bildungsbereich der Freien Universität Bozen empfangen wir regelmäßig Delegationen aus dem Ausland mit Wissenschaftler:innen, Studierenden und politischen Entscheidungsträgern, die von uns lernen wollen, wie gute inklusive Bildung umzusetzen ist.
Fragt man nach der Wirksamkeit, kann dem internationalen Wissensstand folgend eindeutig gesagt werden, dass Sonderklassen nicht effektiv sind, sondern sich lernhinderlich für alle Kinder auswirken. Der wichtigste Grund dafür ist, dass dort die Anforderungen systematisch abgesenkt werden, die Erwartungen der Lehrpersonen an die Kinder sinken und die Kinder sich weniger zutrauen – eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Aussonderung als Antwort auf Leistungsschwäche bedeutet also, diese zu stabilisieren. Sonderklassen produzieren so gesehen systematisch Leistungsversagen. Zugleich gibt es dann in den Klassen, in denen alle „schwierigen“ Kinder gehen müssen, wenig Anlass, den Unterricht zu verbessern, was letztendlich auf Kosten aller geht. Umgekehrt konnte gezeigt werden, dass inklusive Bildung die Entwicklung einer qualitiv hochwertigen Didaktik insgesamt stärkt. Einem hartnäckigen Vorurteil wiedersprechend, wurde in vielen Untersuchungen gezeigt, dass Inklusion nicht auf Kosten der Leistungen der Kinder insgesamt geht, sondern sondern gleich gute oder höhere Leistungen erzielt werden als in nichtinklusiven Klassen, und zwar von allen Schüler:innen – mit oder ohne attestierte Beeinträchtigung.
Der wissenschaftliche Kenntnisstand ist also eindeutig. Die Äußerungen Vanaccis ignorieren dies nicht nur, sondern lassen auch die Idee einer wettkampforientierten Bildung erkennen, die er mit dem Sport vergleicht. Eine solche reduzierte Idee von der Schule als Wettkampfarena genügt weder den Minimalanforderungen an eine Schule in demokratischen Gesellschaften noch denen des fachlichen Wissensstandes. Sie übersieht zunächst den einfachen Umstand, dass Kinder nicht mit den gleichen Startpositionen in die Schule einsteigen, sondern aus sehr unterschiedlichen Lebenslagen kommen. Wir wissen, dass Kinder mit schwierigen Lebensbedingungen und Ausgangslagen besonders häufig einen individuellen Bildungsplan auf der Basis entsprechender Diagnosen erhalten. Wird dies nun mit Aussonderung der Kinder aus den allgemeinen Klassen verknüpft, entzieht man damit gerade den Kindern, die am meisten auf Bildungerfolg angewiesen sind, um sich für ihr Erwachsenenleben eine gesellschaftliche Position zu erobern, ihre wichtigsten Ressourcen: Freundschaften und Anregungen Gleichaltriger und motivierende Bildungsanregungen. Sonderklassen würden somit sehr wirkungsvoll die gesellschaftliche Ungleichheit verstärken, die Starken belohnen und die Schwachen schwächen und damit die Entwicklung von Solidarfähigkeit insgesamt hemmen. Hier stoßen wir auf entscheidende Fragen: Was soll die Schule für die Gesellschaft leisten und was braucht eine gute Schule von der Gesellschaft?
Die Schule ist neben der Familie der der gesellschaftlich wichtigste Ort, an dem Kinder und Jugendliche das Leben in einer demokratischen Gesellschaft lernen können. Dazu gehört neben Wissenserwerb unbedingt der Zusammenhalt der Verschiedenen. Die sozialen Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen in der Schule als öffentliche Institution, in der Kinder unterschiedlicher Milieus zusammentreffen und sich im demokratischen Miteinander einüben können, ist durch nichts zu ersetzen. Inklusive Bildung hat sich dabei als ein wichtiger Motor für gesellschaftliches Wachstum gezeigt und ist zugleich ein Brennglas für die Qualität von Bildung. Qualitative Probleme mit inklusiver Bildung sind so gesehen nichts anderes als Qualitätsprobleme der Schule insgesamt, denn der Umgang mit der Verschiedenheit des Lernens ist zentraler Teil professionellen Lehrerinnenhandelns insgesamt. Es gibt keine homogene Klasse und jedes Kind hat individuelle Lernbedürfnisse. Hiermit didaktisch und pädagogisch so umzugehen, dass jede:r Schüler:in an der individuellen Leistungsgrenze herausgefordert wird und die Kinder und Jugendlichen sich dabei zugleich als Teil einer sozialen Gemeinschaft fühlen können, macht im Kern die Qualität von schulischer Bildung aus. Insofern ist die Forderung nach Sonderklassen eine Gefährdung für die Qualität des Unterricht, denn anstatt den Unterricht zu verbessern, wenn einzelne Lernende Schwierigkeiten haben oder besondere Potenziale haben, würde diese berufliche Anforderung organisatorisch bearbeitet – der Unterricht bliebe wie er ist und dies ginge dann auf Kosten aller, übrigens auch der besonders schnell Lernenden.
Ein inklusives Bildungssytem braucht daher unbedingt sehr gut qualifizierte Lehrpersonen. Dies wird in Alltagsdebatten häufig mit der richtigen „Haltung“ verwechselt, ist jedoch eine Frage fundierten pädagogischen und didaktischen Wissens und der Fähigkeit, dieses Wissen anzuwenden. Inklusive Bildung braucht selbstverständlich eine hohe Fachkompetenz, und wir sehen in unseren Studien hierzu ein gemischtes Bild: neben vielen, sehr weit entwickelten, innovativen Konzepten, die das Lernen der Kinder in den Mittelpunkt stellen, gibt es auch Hinweise auf wenig entwickeltes Fachwissen und Formen des Unterrichts, die nicht dem aktuellen Wissensstand entsprechen, sondern eher das selbst in der Schule Erlebte wiederholen.
Um einen Qualitätsschub in die inklusive Bildungspraxis zu bringen, brauchen wir daher dringend Investitionen in die universitäre Bildung und in die Weiterbildung von Lehrpersonen. Hierzu sollten aus unserer Sicht Politik, Universität und Schule zusammenarbeiten, und in Netzwerken von Forschung, Praxis und Steuerung an Konzepten hochwertiger inklusiver Bildung arbeiten, von denen am Ende alle Kinder profitieren. Dies könnte die Schule zugleich vor unangemessenen und unzeitgemäßen Vorschlägen wie der Rückkehr zu Sonderklassen schützen und dazu beitragen, dass unsere Schulen sowohl Orte der persönlichen Bildung und Entfaltung als auch der Solidarität und der demokratischen Handlungsfähigkeit sein können. Dass wir dies dringend brauchen, zeigen die jüngsten Debatten deutlich.
Simone Seitz, Professorin für Allgemeine Didaktik und Inklusion an der Fakultät für Bildungsswissenschaft der unibz und Direktorin des Kompetenzzentrums für Inklusion im Bildungsbereich
Heidrun Demo, Professorin für Inklusive Pädagogik und Didaktik an der Fakultät für Bildungsswissenschaft der unibz
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