Nationale Minderheiten und ihre Sprachen
Ihre Studie „Sprachenvielfalt und kulturelle Vielfalt – Minderheitensprachen und minorisierte Sprachen als Teil der sprachlichen und kulturellen Vielfalt Europas“ wurde vom Petitionsausschuss des EU-Parlaments in Brüssel beuftragt. Wer war noch an der Studie beteiligt?
Der Autor der Studie bin ich. Doch ich konnte sehr von den langjährigen einschlägigen Erfahrungen profitieren, die ich im Südtiroler Volksgruppen-Institut SVI gesammelt habe, das ich seit 2013 wissenschaftlich leite. Ebenso von den doch zahlreichen Publikationen zu diesem Thema, die wir bereits herausgegeben haben, z.B. dem Handbuch der Europäischen Volksgruppen.
Die Studie kommt zu einem sehr ernüchternden Ergebnis. Wie ist es um Europas Minderheitensprachen bestellt?
Leider nicht so gut. Die verfügbaren Daten (aus Volkszählungen und Schätzungen) zeigen, dass zwei Drittel der 158 Minderheiten in der EU in den vergangenen Jahrzehnten stark geschrumpft sind. Das gleiche muss man wohl auch für den Gebrauch der entsprechenden Minderheitensprachen annehmen. Zum Glück gibt es aber einige wenige Ausnahmen, die zeigen, dass das Schrumpfen einer Minderheit kein „Naturgesetz“ ist.
Gibt es Minderheitensprachen die stärker vom Aussterben bedroht sind als andere? Welche Gründe sehen Sie dafür?
Besonders kleine, nicht geschützte Minderheiten sind vom Aussterben bedroht. In der Literatur wird vielfach eine Größe von 300.000 Sprecher:innen als unteres Maß angegeben, damit sich eine Sprache intern reproduzieren kann und nicht unmittelbar vom Aussterben bedroht ist. Die meisten Minderheiten in Europa sind kleiner als diese Schwelle. Aber auch größeren Minderheiten geht es ohne richtigen Schutz nicht gut: man braucht sich nur die demographische Entwicklung der ungarischen Minderheit in Rumänien anzuschauen. Umgekehrt können auch kleine Minderheiten mit einem guten Schutz stabil bleiben oder sogar wachsen: das war bisher für die Ladiner:innen in Südtirol der Fall. Wir werden sehen, welches Ergebnis die aktuelle Sprachgruppenzählung, die gerade läuft, bringen wird.
Sie haben im EU-Parlament Empfehlungen ausgesprochen. Was sind die wichtigsten?
Ich habe eine Reihe von Maßnahmen genannt. Aber sie kreisen letztendlich alle um diese Logik: eine Minderheitensprache braucht – wie jede Sprache – neue Sprecher:innen, damit sie überleben kann. Es ist aber notwendig, dass diese Sprecher:innen weiterhin im Gebiet der Minderheitensprache leben können, denn außerhalb davon können sie ja die Minderheitensprache nicht (mehr) verwenden. Also ist es ganz wichtig, dass auch die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in diesen Gebieten verbessert werden. Insbesondere Südtirol, aber auch andere europäische Beispiele zeigen, dass die besten Ergebnisse im Rahmen einer guten Autonomie erzielt werden können. Innerhalb einer solchen Autonomie sollte die Arbeitsteilung zwischen dem Staat und den Lokalkörperschaften so aussehen: jeder kümmert sich um das, was er am besten kennt und kann. So können dann gezielte Maßnahmen wie Unterricht der Minderheitensprache in der Schule, Verwendung in der öffentlichen Verwaltung usw. umgesetzt werden. Leider sehen viele Staaten in der Autonomie den ersten Schritt zur Sezession. Dabei ist es gerade umgekehrt: eine gute Autonomie macht Sezessionsbestrebungen obsolet.
Was kann die Forschung, was kann eine Universität wie die unibz dazu beitragen, um dem Schwinden der Minderheitensprachen entgegenzuwirken?
Für Minderheitensprachen sind akademische Einrichtungen sehr wichtig, denn sie sind in ihrem Handeln freier als andere staatliche Institutionen. Die Freie Universität Bozen bietet dafür ein europaweit viel beachtetes Beispiel, weil wir in der Lehrerausbildung 20 Stunden „Ladinische Sprache und Kultur“ eingeführt haben, was für alle Studierenden verpflichtend ist, nicht nur für Angehörige der ladinischen Minderheit. Umgekehrt ist leider der Master in Angewandter Linguistik, wo die Minderheitensprachen auch eine wichtige Rolle spielen, heuer nicht gestartet. Wir werden aber alles daran setzen, dass der Kurs im nächsten akademischen Jahr wieder angeboten werden kann. In der Forschung haben viele Unis eine Spezialisierung: unibz für Ladinistik, Udine für Friaulisch, Zürich für Bündnerromanisch, Cosenza für Arberësh, Leipzig für Sorbisch, Flensburg für Friesisch, Corti für Korsisch usw. Es wäre schön, wenn wir ein Netzwerk dieser Universitäten bilden könnten.
(av)